Warum wir oft über unsere Grenzen leben, ohne es zu merken
Unser Nervensystem arbeitet still und zuverlässig im Hintergrund. Es regelt unsere Atmung, unseren Herzschlag, unser Verdauungssystem – aber auch, wie wir auf Stress reagieren, wie sicher wir uns fühlen und ob wir uns mit uns selbst und anderen verbunden erleben.
Was oft übersehen wird: Unser Nervensystem ist nicht einfach nur ein biologischer Apparat. Es ist zutiefst mit unserer Lebensgeschichte verbunden. Mit dem, was wir gelernt haben über Sicherheit, über Nähe, über Leistung, über Dazugehören. Es reagiert nicht nur auf das, was jetzt gerade passiert, sondern auch auf das, was einmal war.
In meiner Praxis erlebe ich häufig Menschen, die sich fragen, warum sie sich so erschöpft fühlen – obwohl „doch eigentlich alles in Ordnung“ ist. Sie funktionieren, sie sind leistungsfähig, sie machen „alles richtig“. Und trotzdem fühlen sie sich innerlich leer, gereizt oder abgeschnitten von sich selbst.
Ein Grund dafür liegt oft in einer dauerhaften Überforderung des Nervensystems, die im Alltag kaum auffällt, weil sie so normal geworden ist.
1. Multitasking – der unterschätzte Stressfaktor
Multitasking ist längst zum Alltag geworden: Wir schreiben E-Mails, während wir telefonieren. Hören Podcasts beim Aufräumen. Beantworten Nachrichten zwischen zwei Terminen. Wir haben gelernt, effizient zu sein – aber zu welchem Preis?
Für unser Nervensystem bedeutet Multitasking: ständige Reizverarbeitung, ständiges Umschalten, keine echte Pause. Auch wenn es äußerlich gut funktioniert, bleibt das System innerlich in einem Zustand erhöhter Aktivierung. Das kann zu Nervosität, Unruhe, Konzentrationsproblemen oder Schlafstörungen führen, ohne dass wir es direkt mit dem „ständigen Tun“ in Verbindung bringen.
Es ist nicht schlimm, viel zu tun. Aber unser System braucht Phasen ohne Reize, ohne Input, ohne Ziel. Nur dann kann es wirklich herunterfahren.
Impuls: Wie wäre es, eine Sache ganz zu tun? Nur essen, ohne Handy. Nur gehen, ohne Podcast. Nur atmen, ohne To-do-Liste im Kopf.
2. Dauernd funktionieren – und sich dabei verlieren
Viele Menschen haben früh gelernt, „sich zusammenzureißen“. Nicht jammern. Stark sein. Durchhalten. Und oft hat das geholfen, weil es notwendig war. Weil niemand da war, der gesagt hätte: „Du darfst auch schwach sein.“
Das Problem: Wenn wir über lange Zeit hinweg im Funktionsmodus bleiben, verlernen wir, auf unsere inneren Zustände zu hören. Wir registrieren nicht mehr, wie müde, überfordert oder angespannt wir eigentlich sind und machen automatisch weiter. Unser Nervensystem bleibt dabei im Stresszustand, oft ohne dass wir es bemerken.
Auf Dauer entsteht so eine Entfremdung vom eigenen Körper. Wir spüren Signale erst dann, wenn sie laut werden – als Rückenschmerz, Erschöpfung, Gereiztheit oder völlige innere Leere.
Impuls: Du musst nicht warten, bis „nichts mehr geht“. Es ist erlaubt, Pausen zu machen, bevor du am Limit bist.
3. Der Druck, „normal“ zu sein – und wie er innerlich stresst
„Du bist doch immer so positiv.“
„Du wirkst gar nicht so, als ob es dir schlecht geht.“
„Anderen geht’s doch auch so.“
Solche Sätze klingen harmlos. Aber sie prägen uns und unser Nervensystem. Sie erzeugen subtilen Druck: So wie du gerade bist, darfst du nicht sein.
Viele Menschen passen sich an, ohne es zu merken. Sie lächeln, obwohl ihnen nicht danach ist. Sie sagen Ja, obwohl sie Nein meinen. Sie versuchen, zu funktionieren – für den Job, für die Familie, für das Bild, das sie von sich selbst haben.
Was dabei verloren geht, ist der ehrliche Kontakt nach innen. Und genau das ist es, was das Nervensystem stresst. Denn es braucht Sicherheit und innere Stimmigkeit und nicht äußere Anpassung.
Impuls: Manchmal beginnt Selbstfürsorge mit einem ehrlichen inneren Satz: „So wie ich gerade bin, ist es okay.“
Was dein Nervensystem wirklich braucht
Dein Nervensystem braucht kein weiteres „sich zusammenreißen“. Kein neues Optimierungskonzept. Kein besseres Zeitmanagement.
Es braucht Verlangsamung, Verbindung, Verständnis.
Es braucht Räume, in denen du nicht „richtig“ sein musst, sondern einfach sein darfst.
- Momente, in denen du nichts tust und dich trotzdem willkommen fühlst
- Körperwahrnehmung, ohne Bewertung
- Beziehungen, in denen du dich zeigen darfst mit allem, was da ist
Manchmal reicht schon ein kleines Innehalten. Ein Atemzug. Eine Berührung. Eine ehrliche Frage: Wie geht es mir gerade wirklich?
Fazit: Es darf einfacher sein
Unser Nervensystem ist nicht dafür gemacht, dauerhaft unter Druck zu stehen. Es ist feinfühlig, lernend, anpassungsfähig – aber es braucht auch Schutz, Erlaubnis und Raum.
Viele der Belastungen, die wir täglich mittragen, sind uns so vertraut geworden, dass wir sie kaum noch hinterfragen: ständiges Multitasking, das Gefühl, immer funktionieren zu müssen, der Druck, so zu sein wie „alle anderen“. Doch all das geht nicht spurlos an uns vorbei.
Vielleicht ist es an der Zeit, nicht noch mehr zu leisten, sondern weniger zu müssen.
Nicht noch ein Tool zu lernen, sondern einfach mal zu spüren:
Was tut mir gut? Was darf wegfallen? Und wie fühlt sich Sicherheit eigentlich in meinem Körper an?
Wirkliche Entlastung beginnt oft nicht mit einem großen Schritt, sondern mit einem ehrlichen Moment der Aufmerksamkeit.