Wenn Wunden vererbt werden
Manchmal spüren wir in unserem Leben eine Schwere, die wir uns nicht erklären können. Alte Ängste, Gefühle von Schuld oder Scham, innere Enge – ohne sichtbaren Grund, ohne erkennbare Ursache. Und manchmal zeigt sich in der therapeutischen Arbeit: Diese Gefühle gehören nicht (nur) zu unserer eigenen Geschichte. Sie sind Spuren von etwas, das schon vor uns war.
In diesem dritten Teil der Reihe „Trauma verstehen“ geht es um die transgenerationale Weitergabe von Traumata – darum, wie unverarbeitete Erfahrungen von einer Generation zur nächsten weiterwirken können. Und darum, wie sich dieses Wissen mit unserer eigenen Lebenswirklichkeit verbinden lässt.
Trauma – vererbt oder übernommen? Zwei Perspektiven auf die Weitergabe
Wenn Trauma in Familien weiterwirkt, geschieht das meist auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Zwei davon sind besonders bedeutsam – und es lohnt sich, sie bewusst zu unterscheiden:
1. Das Weiterleben des Traumas im Verhalten und Erleben
Eltern oder Großeltern, die traumatische Erfahrungen gemacht haben – etwa durch Krieg, Gewalt, Verlust oder emotionale Vernachlässigung – konnten diese oft nicht verarbeiten. Das bedeutet nicht, dass sie „schuld“ sind oder absichtlich etwas weitergeben. Aber häufig entstehen unbewusste Schutzmechanismen, die auch das Kind prägen: emotionale Abwesenheit, Überfürsorglichkeit, plötzliche Reizbarkeit, Tabuisierungen. Kinder spüren, dass etwas unausgesprochen in der Luft liegt – und passen sich an. Sie übernehmen oft die emotionale Last der Eltern, ohne sie benennen zu können.
2. Das Trauma in den Zellen – die epigenetische Perspektive
Traumatische Erfahrungen wirken nicht nur psychisch, sondern auch biologisch – und sie hinterlassen Spuren im Körper. Die Forschung zur Epigenetik zeigt: extreme Belastungen verändern die Aktivität von Genen, also wie Gene ein- oder ausgeschaltet werden. Diese epigenetischen Veränderungen können weitervererbt werden – über Generationen hinweg.
Das bedeutet: Auch wenn ein Kind selbst kein Trauma erlebt hat, kann es körperlich auf bestimmte Reize überempfindlich reagieren – weil das Nervensystem bereits eine Form von „Vorprägung“ trägt. Diese Erkenntnis verändert unseren Blick auf Symptome: Sie sind nicht immer Hinweis auf das eigene Erleben, sondern manchmal Ausdruck einer tieferen kollektiven Geschichte.
Gleichzeitig zeigt die Forschung: Auch neue Erfahrungen können epigenetische Muster beeinflussen. Sichere Beziehungen, unterstützende Umfelder und therapeutische Prozesse tragen dazu bei, dass sich alte Prägungen verändern. Vererbung ist kein endgültiges Schicksal – sie ist auch eine Einladung zur Wandlung.
Wie sich vererbtes Trauma zeigen kann
Transgenerationale Traumatisierung zeigt sich selten eindeutig. Sie wirkt oft wie ein diffuser Hintergrundton im Leben – schwer greifbar, aber dennoch spürbar. Typische Anzeichen können sein:
- ein Gefühl von innerer Schuld oder Scham, ohne ersichtlichen Grund
- das Empfinden, „nicht ganz da“ oder nicht ganz man selbst zu sein
- unklare Ängste, die sich nicht logisch erklären lassen
- das Gefühl, das eigene Leben „für jemanden anderen“ zu leben
- ein starkes Bedürfnis, sich anzupassen oder „alles richtig zu machen“
- Wiederholungen von Beziehungsmustern, die schmerzhaft und vertraut zugleich sind
Diese Phänomene lassen sich nicht immer klar einem Ereignis zuordnen – gerade das macht transgenerationale Prozesse so komplex. Aber sie lassen sich nach und nach entwirren.
Was unterstützt – und was verändert?
Der erste Schritt ist oft das Erkennen: Diese Schwere, diese Muster, diese Gefühle – sie kommen nicht aus dem Nichts. Vielleicht gehören sie nicht (nur) zu mir. Vielleicht trage ich etwas, das älter ist als mein eigenes Leben.
In der Therapie kann ein Raum entstehen, in dem die Vergangenheit gesehen und gewürdigt wird, ohne dass sie weiterhin das Jetzt bestimmt. Es geht nicht darum, Schuld zuzuweisen – sondern um Verbindung, um Verstehen, um neue Wahlmöglichkeiten.
Auch körperorientierte Therapieformen wie Somatic Experiencing, EMDR oder gestalttherapeutische Prozesse können helfen, das Nervensystem zu regulieren und alte, vererbte Spannungen zu lösen. Veränderung entsteht nicht durch Vergessen, sondern durch liebevolle Präsenz.
Abschließende Gedanken
Transgenerationale Traumatisierung zu verstehen bedeutet, die eigene Geschichte in einen größeren Zusammenhang zu stellen – und gleichzeitig den Mut zu fassen, sie neu zu schreiben.
Entlastung ist möglich. Nicht nur für einen selbst – sondern oft auch rückwirkend für das System, aus dem man kommt. Und für die, die danach kommen. Vielleicht beginnt sie mit einem einfachen, tiefen Satz:
Ich trage das nicht mehr weiter.
Wenn dich diese Gedanken berühren oder du dich in vielem wiederfindest, kann es sinnvoll sein, dich begleiten zu lassen.